safe space kunst
von Anja Mutschler

Essay, auf Basis des Vortrags am 23. März 2025 im Künstlerbund Heilbronn, der diesem Text auch seine Form geben soll
Guten Tag liebe Anwesende und Gäste,
sehr geehrte Kunstschaffende, namentlich Eva Petzold und Michael Mutschler,
liebe Familie,
sehr geehrte Sammlerfamilie Klagholz,
liebe Mitglieder des Künstlerbunds Heilbronn und insbesondere
lieber Klaus Rensch, der als Vorstand gemeinsam mit Kirsten, "Kiki" Brunner überhaupt erst möglich gemacht hat, dass wir diese Pop-Up-Ausstellung anlässlich des 400.-jährigen THG-Jubiläums realisieren konnten.
Des Gymnasiums schräg gegenüber also, an dem die Künstlerfamilie Mutschler, um die es hier geht, Lehrer oder Schüler*in waren.
Mein besonderer Dank geht an dieser Stelle auch an den Schulleiter Frank Martin Beck, dessen Engagement mit dazu beigetragen hat, das so viele der Ehemaligen diese Ausstellung an diesem Wochenende besucht haben. Die übergroße Herzlichkeit, mit der mein Ansinnen hier allgemein aufgenommen worden ist, werde ich nicht vergessen.
Danke auch euch, lieber Gus und liebe Eva, lieber Jogi und liebe Karin, für die freundliche Beherbergung während meiner Zeit hier!
Ich freue mich sehr, heute hier zu stehen, inmitten der Ausstellung meiner Familie, der "Künstlerfamilie Mutschler", in der Sie Werke meines verstorbenen Großvaters Rudolph Mutschler, meines Vaters Michael Mutschler und meiner Tante Eva Petzold entdecken können. Ich bin Anja Mutschler, Enkelin, Tochter und Nichte, und habe vor etwa einem Jahr in meiner Wahlheimat Leipzig einen Kunstsalon ins Leben gerufen - auch dort mit einer Variante dieser Ausstellung mit dem Titel „Enjoy the difference - die Künstlerfamilie Mutschler“. Den Titel meine ich wortwörtlich: sich an den Unterschieden zu erfreuen, sie nicht nur als notwendiges Übel anzusehen, sondern als Qualität zu begreifen, wie in einer freien Gesellschaft, in der wir leben, miteinander umgehen sollten: Die Unterschiedlichkeit, die Differenz ist die Möglichkeit, sich als Mensch in seinem Sosein zu präsentieren, in der sicheren Erwartungen, nicht dafür abgeurteilt zu werden. Das zeichnet meine Familie für mich aus, dass wir Unterschiedlichkeit geradezu feiern - so sind wir vier Geschwister und wirklich jede und jeder von uns hat seine ganz eigenen Interessen entwickeln dürfen. Im Künstlerischen ist diese Möglichkeit zur Unterschiedlichkeit in den drei ausgestellten Künstler*innen sichtbar, und mit dieser Ausstellung möchte ich gerne einen Beitrag zu der Debatte leisten, die uns umtreibt. Und Kunst kann für mich manches, das im vorsprachlichen Raum stattfindet, und das sind, wie man weiß, die stärksten Emotionen, aufdecken, und es kann dazu beitragen, dass es ein Gespräch werden kann. Oder man einfach im Schauen etwas begreift, auch das ist eine wunderbare Folge des Kunstgenuss, über den ich heute auch sprechen möchte.
Da ich seit langer Zeit nun in Ostdeutschland wohne, wo die AfD ihren Aufstieg begonnen hat, die aus meiner Sicht dazu beitragen möchte, dass die Unterschiedlichkeit eben keine Qualität mehr ist, sondern die Ähnlichkeit, das Gleiche bevorzugt, liegt mir dieses Thema besonders am Herzen. Vielleicht sollte ich hinzufügen, dass ich selbst lange Zeit brauchte, für mich selbst den Unterschied den ich als in Süddeutschland geborener und sozialisierter Mensch gerade im Miteinander und in den Gepflogenheiten verspürte, auch als etwas Positives zu sehen. Dabei sind meine beiden Kinder in Potsdam geboren und zumindest meine Tochter ist stolze Leipzigerin. Heimat, das ist das Vertraute und, diese persönliche Anmerkung sei mir erlaubt, die Spannung, die sich zwischen der Heimat und der Wahlheimat ergibt, ist kreativ außerordentlich fruchtbar, seelisch aber nicht immer einfach zu halten. Die unausgesprochene Selbstverständlichkeit zwischen Menschen vom selben Acker, vielleicht habe ich sie zugleich mit gemeint, als ich diese Ausstellung über die Eloge an die Unterschiedlichkeit gemacht habe: meine Sehnsucht, die Unterschiedlichkeit, Vielfalt, Diversität, die "Schwellenlust", wie es ein Philosoph kürzlich bezeichnet hat, und wie sie vielleicht in einer satten Region wie hier einfacher zu erzeugen ist als in einer von fremden Transformationsaufforderung getriebenen Region wie Sachsen. Was einen selbst treibt, indes, das weiß man ja nie so genau.
Daher ist es einfacher, über das Andere zu sprechen. Und ich möchte heute in drei Teilen zeigen, was das Wertvolle an der Kunst ist, wieso ich sie als Safe Space bezeichne. Zum einen in seiner sprichwörtlichen Bedeutung: als Raum. Für die Gesellschaft wie für diejenigen, die Kunst erschaffen. Zum zweiten im künstlerischen Schaffen und Wirken als solches, das ohne unsere demokratische Kunstfreiheit, über die dieser Tage wieder heftig gestritten wird, nicht möglich wäre. Und zum Dritten auch in der Wirkung der Kunst auf uns, das Publikum, und die Frage von Erwartungen, die Künstler*in und Publikum aneinander haben können und welche sie besser sein lassen.
Beginnen wir mit dem Raum. Wussten Sie, dass die Kunstsalons, die in Deutschland im 18. Jahrhundert entstanden, Räume waren, in denen das entstehende Bürgertum Geselligkeit übte?
Zum historischen Hintergrund: In seinem Hauptwerk "Prozess der Zivilisation" beschreibt Norbert Elias, wie die höfische Gesellschaft als erste "globale" Gesellschaft von Paris ausgehend, europaweit eine Norm an Sitten und Gebräuchen verankerte, mit der sich die Angehörigen jener höfischen Oberschicht wiedererkannte. Ich finde dies auch deshalb interessant, weil wir heute wieder darüber sprechen, welche kulturellen Werte eigentlich welche Nationen und Regionen miteinander verbunden halten. Dies aber nur als Seitenbemerkung. Schauplatz jener Genese, Zivilisierung und schließlich Ausweitung ins Bürgerliche waren die Salons. Der Ursalon war der Salon de Paris, 1667, gegründet: über zweihundert Jahre war er ein Ort der Distinktion: wer dabei war, wer sich zeigen durfte, wer dort bekannt wurde, der wurde etwas. Den Salon de Paris gab es übrigens bis zum Anbruch der Moderne, diese letzte Neuerung schaffte dieser Raum nicht. In einer Veranstaltung zur Buchmesse Leipzig letztes Jahr hatte ich eine Gästin, die mir viel über den Kunstsalon als Ort der Geselligkeit beibrachte. Für sie waren die Kunstsalons, speziell die deutschen, Orte, an denen das neu entstehende Bürgertum Geselligkeit übte, insbesondere im 18. Jahrhundert, als vieles noch nicht so fest war. Der Knigge beispielsweise ist ein Ergebnis dieser Salonkultur. Was ist das Gesellige? Nun, Sie und ihr sitzt heute an dieser langen Tafel, auch das ist ja Geselligkeit. Die Kunst als Vehikel hat uns zusammengebracht und vielleicht fühlt die ein oder andere sich auch ein wenig anders als sonst in seinem Alltag, führt Gespräche, die er nicht führt, schaut Dinge, die er sonst nicht sieht, denkt anders über Neues nach. Zumindest haben wir uns auf dieses Treffen vorbereitet. Gesellschaft, das Gesellige, unterscheidet sich vom Privaten. Die Anlaufschwierigkeiten, die manche nach der Coronapandemie hatten, zeigen: das soziale Miteinander will geübt sein. Im 18. Jahrhundert gab es, so lehrte es mich eine kluge Wissenschaftlerin, die ich letztes Jahr zu Gast hatte, auch eine Zeitschrift nur über das Thema der Geselligkeit. In der Zeitschrift „Gesellige“ ist, wen wundert es, auch eine Definition zum geselligen Menschen zu lesen. Es heißt:
„Ich verstehe unter einem geselligen Menschen, einen solchen, der sich in seiner inneren und äussern Einrichtung nicht als einen einzeln Menschen, sondern im beständigen Zusammenhange mit seinen Nebenmenschen betrachtet, und sich daher in seinen Handlungen so zu verhalten bestrebet, dass er zu dem allgemeinen Wohle so viel möglich beytrage, um das allgemeine Wohls insbesondere teilhaftig zu werden.“
Das Ich und das Andere, das Innen und das Außen, der öffentliche und der private Raum. Der Lohn für die Geselligkeit war die Zugehörigkeit. In der DDR gab es übrigens Wohnzimmersalons, in denen die Subkultur sich traf und Kunst zeigte oder produzierte. Ich meine: ist es noch heute. Zugleich ist der Salon auch ein intimer Raum, ein erster Safe Space für die damaligen Künstler, die wie es die damaligen Zeiten so hielten, zumeist männlich waren, wohingegen aus denselben Gründen die Veranstalterinnen der Salons, gerade in Deutschland, zumeist weiblich waren. In einem Internetbeitrag dazu heißt es zum weiblichen Publikum des ersten Salons in Weimar, gegründet 1776, lapidar. „Hofdamen sind als handarbeitende Zuhörerinnen im Nebenraum dabei.“ (Link) Im Weimarer Salon von Herzogin Anna Amalia von Sachsen-Weimar-Eisenach waren auch Goethe, Herder oder Schiller zu Gast. Sie diskutierten oder brachten Unveröffentlichtes zum Lesen mit, stellten sich dem Feedback, trauten sich. Nicht verwunderlich ist, dass Kunstsalons auch der erste Ort waren, an denen sich eine Fankultur entwickelte. Die Kunstsalons waren auch die ersten Orte, in denen Künstler*innen sich ein eigenes Publikum überhaupt schaffen konnten. Noch ein Michelangelo oder Da Vinci waren von den oft kirchlichen Auftraggebern abhängig - dass wir heute von freiem Künstlertum sprechen, haben wir unter anderem auch der Salonkultur zu verdanken. Dort trafen diejenigen, die Kunst machten auf diejenigen, für die die Kunst gemacht wurden. Im Marketing würde man es einen A/B-Test nennen, man könnte auch sagen: „mal einen Testballon steigen lassen“, zumindest stelle ich mir diese Zusammentreffen zumindest der intimeren Salons vor. Die Spannung zwischen dem geschützten Raum und dem öffentlichen Raum kulminierte in der Zeit, als sich die feudale in die industrielle Gesellschaft wandelte. Je machtvoller die Salons als geselliger Raum wurden, desto anfälliger waren sie als Orte für Ränkespiele und Intrigen - und natürlich Kulturpolitik. Das Salonformat ist glücklicherweise recht amorph: So gilt der Pariser „Salon Des Refusés“ von 1863, der all jene Künstler ausstellte, die von der Jury des Salon de Paris abgelehnt worden waren, als Geburtsstunde der Modernen Malerei.
Das Motto „gute Kunst in guter Gesellschaft“, das ich für meinen Kunstsalon und also auch für diese Veranstaltung hier gewählt habe, scheint mir auch heute noch passend zu sein. Es ist sicherlich kein Zufall, das in letzter Zeit häufiger von Salons die Rede ist. Der Safe Space für die Gesellschaft und jener für die Kunst sind in der freien Gesellschaft eng miteinander verbunden.
Das bringt mich zum zweiten Aspekt des „Safe Space Kunst“: die Kunstfreiheit, die das Wirken der Kunstschaffenden garantiert. Artikel 5, Absatz 3, ein lex specialis, das sind jene Grundgesetzartikel, die das allgemeine Recht bei der Rechtsprechung aussticht. Die Kunstfreiheit steht also noch über der Meinungsfreiheit, sie erinnern sich sicherlich an das ein oder andere Schmähgedicht oder kunstfreundlichen Urteilen bei Büchern, etwa Benjamin Stuckrad-Barres Buch „Noch wach?“, bei dem Julian Reichelt, der Ex-Chdefredakteur von „Bild“, sich porträtiert fühlt. Möglicherweise - in dubio pro reo. Schlüsselromane leben davon, dass sie auf der Kunstfreiheit Schneide gekonnt balancieren und die Prominenz der vermuteten Protagonist*innen nutzen können. Fair enough.
Die Kunstfreiheit ist zugleich wie auch die Wissenschaftsfreiheit ein wichtiger Marker zum Zustand einer Demokratie: werden diese zwei Disziplinen unter staatliche Zensur gestellt, ist die Diktatur oft nicht weit. Diejenigen, die am frühesten protestiert haben in den USA seit „Trump II“, das waren nicht ohne Grund Menschen aus Kunst und Wissenschaft. Ein Beispiel aus der Kulturszene: die Übernahme des Kennedy Centers durch den aktuellen amerikanischen Präsidenten. Das Kennedy-Center ist eine der ehrwürdigsten Kultureinrichtungen in den USA, man könnte vielleicht sagen, eine amerikanische, also etwas profitorientiertere Version eines europäischen Kunstsalons: wegweisend, stilgebend, zugleich für eine möglichst breite Gesellschaft ausgelegt, unabhängig und eben: ein zwar von einem Politiker, Kennedy, eingerichtetes und von der Politik gestütztes, aber NICHT von der Politik beeinflusstes Haus. Ein Ort, an dem sich eine kulturell in den letzten hundert Jahren stilgebende Nation kulturell findet, erfindet und erneuert. Und jetzt: regiert Trump hinein, zunächst mit Direktiven, die der vielfältigen, offenen Kunstwelt den Boden unter den Füßen wegreißt. Und möchte gar Vorsitzender werden. Augenrollemoji!
In meinen Augen gilt: sobald Kunst nicht mehr potentiell alles sein darf, ist sie nichts mehr. Freilich wird sich die staatliche Abwehr beispielsweise trans-feindlicher Kulturpolitik in der Gegenkultur weiterentwickeln. Aber das hohe Gut einer streng neutralen Perspektive auf Kunst, die in ihrer radikalen Subjektivität in der Bundesrepublik Deutschland „unter dem Regime des Grundgesetzes“ so der Deutsche Kulturrat in seinem Beitrag über Kunstfreiheit (Link), frei ist, kann nicht hoch genug geschätzt werden. Zum Vergleich: in Autokratien und Diktaturen gibt es offiziell vom Staat akzeptierte Kunst (wobei die Kunstschaffenden hier oft in bisweilen bemerkenswerter Weise Grenzgänge testen) und es gibt „die andere“ Kunst. Ich empfehle an dieser Stelle sehr die Ausstellung „Tensions“, Zerreißprobe in der Neuen Nationalgalerie in Berlin, noch bis August 2025 zu sehen. Dort kann man eine fein kuratierte Ausstellung zur Entwicklung der Kunst in „West“ und „Ost“ entdecken. Es ist nicht nur eine lehrreiche Darstellung einer im Abstrakten das Unfassbare greifbar machenden Kunst in Westeuropa und USA und der figurativen Malerei in den sowjetisch verwalteten Ländern im Osten, sondern auch eine Entdeckungsreise zu einer Kunst ohne und einer Kunst mit staatlicher Zensur.
Das Ringen darum, welche Kunst denn nun in den Augen des Publikums sein sollte, das ist in freien Ländern stets Verhandlung zwischen Künstler*innen und Gesellschaft. Vor diesem Hintergrund ist die Diskussion um einen Verhaltenskodex und Antisemitismus-Formeln in öffentlichen Häusern und Förderrichtlinien in Deutschland kritisch zu reflektieren. Ein erfahrener Kulturreferent, der sich viel besser als ich in der Kulturpolitik Deutschlands auskennt, sensibilisierte mich im Licht dieser aktuellen Debatten jüngst für die Notwendigkeit, dass ein Kulturmensch wie ich es unbedingt aushalten muss, dass Kunstfreiheit mehr bedeutet als Meinungsfreiheit. Dass die Kunst angezählt ist, wenn sie nicht potentiell alles sein darf, auch der Widerspruch, und gerade auch: die Provokation.
Das Wirken des Künstlers als solches ist also ein Safe Space für die Demokratie und freie Gesellschaft. Indem er oder sie zunächst wirkt. Das Publikum darf darauf reagieren wie es möchte. Wir wissen alle, dass „der Skandal, der die Kunstwelt erschüttert“ im Gepäck stets auch wichtige und notwendige Debatten der Gesellschaft mit sich führte. Fragen aufzeigte, die wir uns in anderen Arenen nicht zu stellen trauen. Und, weil es außerhalb der argumentativen Logik, der Operationalisierbarkeit liegt, weil Kunst eben keine Lösungen präsentieren muss und auch keine Fußnoten, weil Kunst aus sich selbst heraus am besten dann funktioniert, wenn die Kunstschaffenden alles vergessen, was sie gelernt haben und ihrem inneren Antrieb so nahe wie möglich kommen, weil Kunst ein Aufschrei sein darf, ebenso wie ein versteckter Kommentar zur Lage, können wir im Anschauen der Kunst sehr viel lernen - wenn wir wollen. Wenn wir die letzte Documenta nehmen, die beinahe zum Menetekel für die Kulturstaatsministerin Roth wurde, als ein außereuropäisches Künstlerkollektiv, die keine Shoah im historischen Kreuz haben, Juden und das Judentum - hm, diffamierte? So trug die Documenta aus meiner Sicht eben durch jene Diskussion über die Grenzen des in Deutschland Zeigbaren zu einer wichtigen, sehr aktuellen Debatte bei, die uns als Gesellschaft beschäftigt.
Klaus Rensch erwähnte es in seiner Eröffnungsrede heute, dass die Bedingungen für Kunstschaffende schwierig sind und das ist meines Erachtens auch einem Missverständnis geschuldet: das die Kunst „gefallen“ müsse. Oder „produktiv“ sein. Ich sage nur: Musical. Oper. Beides ist wichtig, aber die Mechanismen hinter diesen Formaten sind gänzlich verschieden. Die Angst, das falsche zu fördern, die Angst vor Skandalen, die Angst vor Geschmacksdebatten: ich glaube, wer Künstler*in wird heute, der hat geradezu Lust auf diese Angst. Aber es sollte nicht den Förderern von Kunst obliegen, einen möglichst reibungsfreien Kunstgenuss anzubieten. Ihre Aufgabe ist es, Safe Spaces anzubieten, in denen Kunstfreiheit sich entwickeln kann. Das gilt, nicht nur, aber vor allem, für staatliche Akteure. Denn erst, wenn wir uns diese Kunst leisten, die irritiert, empört, ein „ts ts ts“ auslöst, haben wir als Mensch die Sicherheit, dass auch wir irritieren, empören und anecken können. Als Gesellschaft können wir viel lernen von Künstler*innen: wie sie sich hineinbegeben, aussetzen, stören, provozieren, fragen, gestalten, aufreißen und wieder zuschütten, den Raum nehmen, hinausgehen mit Gedanken, die noch nicht im sprachlichen Raum sind, aber nun, als Kunst, zumindest besprechbar werden. Kunst ist der Ort, an dem alles sein darf, auch wir Menschen, in unserer Unaufgeräumtheit. Unserer herrlichen Unaufgeräumtheit, die sich im geselligen Miteinander wieder in ein Ganzes fügen darf. Enjoy the difference!
Der Artikel 5 des Grundgesetz, das fiel mir in der Vorbereitung auf, repräsentiert meinen beruflichen Raum, den ich bislang beschritten habe in meiner journalistischen Arbeit, die radikal unabhängig, in meiner Arbeit in und mit der Wissenschaft, die radikal objektiv und in meinen literarischen und kuratorischen Tätigkeit für Kunst, die radikal subjektiv sein können muss. Call me "Art. 5 warrior" :).
Zu guter Letzt möchte ich über die Wirkung von Kunst sprechen. Dazu fiel mir kürzlich ein passendes Zitat von Marcel Duchamp ein, ein konkreter Künstler in der Moderne, der mit seinem umgedrehten Urinal, Titel„Foutain“ 1917, (heute: Tate Modern London) radikal die Frage stellte: Was ist denn noch Kunst? Er sagte:
„Der Künstler macht nur die Hälfte der Arbeit. Die andere Hälfte macht der Betrachter“
Die Wirkung von Kunst - sie ist so frei wie die Kunst selbst. Auch hier befinden sich Künstler*in und Publikum eigentlich in einem Safe Space, auch wenn dieser, psychologisch betrachtet, besonders heikel ist. Keine oder schlechte Resonanz auf sein Kunstwerk zu erhalten, ist eine harte Angelegenheit. Aber die, die das Kunstwerk betrachten, dürfen reagieren. Mir geht es heute vor allem darum, dem Publikum diesen Safe Space für die Kunstschaffenden vor Augen zu führen: die Wirkung ihrer Werke vor dem Hintergrund der zuvor skizzierten Geselligkeit, die Kunst hervorbringen und bereichern kann; und vor dem Hintergrund der Kunstfreiheit, mit der die Kunst in unserer freien Gesellschaft zum Sprachrohr wird - und uns möglicherweise etwas zu Bewusstsein bringt, von dem wir vorher noch nicht wussten, dass es da ist. So lese ich im Übrigen gerade die Bilder meines Vaters, der die seelische Entwicklung des Menschen mit seinen Werken eben auch im Blick hat und bewusst provoziert. Er ist nur einer von sehr vielen Künstler*innen, die ein Stachel in unserem Fleisch sein wollen. Uns daran erinnern, dass nicht die Ruhe, sondern die Fähigkeit zum Widerspruch unser Normalzustand sein sollte. Die Feministin, huch, sitzen Sie noch? Donna Haraway, nannte dies: Staying with the trouble. (Link zum Aufsatz)
Insofern dürfen wir als Publikum bei einem ost-en-ta-tiv provozierenden Künstler oder Künstlerin ruhig die Sau rauslassen: die Kunst macht sauer? Wunderbar! Her mit den Emotionen. Die sind echt, das ist doch ganz wunderbar. Alle Künstler, die ich so kenne, die bewusst provozieren, halten das auch aus. Oder anders formuliert: einen Shitstorm muss man sich erstmal verdienen. Duchamp wollte das - er wollte die Provokation mit seiner Objektkunst, die das Publikum des frühen 20. Jahrhunderts fragte: bereit für den Bruch der Sehgewohnheiten? Und Sehgewohnheiten, das hat ja nicht nur was mit Kunst zu tun, nein, so wie wir da sehen, schauen wir doch auch in die Welt!
Theodor Heuss etwa, Namensgeber des Gymnasiums gegenüber, mochte einfach keine abstrakte Kunst. Der mit jener grauen Weste der westdeutschen Nachkriegszeit ausgestattete Politiker erlaubte sich ein klares Urteil gegen den Trend. In der schon benannten Ausstellung „Tensions“ in Berlin zeigt sich, dass Abstraktion der damals moderne Weg des Westens war, mit dem Erschrecken jener Zeit umzugehen. Kunst thematisierte das Schrecken und die „Unfähigkeit zu trauern“ (Mitscherlich) freilich viel früher als die beteiligten Personen - noch vor den 68ern. Die Abstraktion war auch so eine Art tabula rasa, der Versuch, ein neues Sinnangebot zu schaffen. Der Mensch Heuss mochte vielleicht das nicht, die Verbindungen in die Zeit, über die plötzlich keiner mehr sprach, war ja trotzdem da, man hatte ja trotzdem gelebt. Ich finde die Werke meines Großvaters vor diesem Hintergrund rasend interessant - eine Sehnsucht nach früher (Antike) strandet in der Leere. Etwas bleibt undefiniert.
Das ist übrigens nicht selten so: dass Kunst eben nicht zur Klärung beiträgt. Dass sie das Dazwischen symbolisiert, in dem wir stecken. Entsprechend persönlich ist die Reaktion darauf: stecke ich im selben Dazwischen, bin ich verzaubert. Ist es ein anderer menschlicher Zustand, der präsentiert wird, wende ich mich ab. Gerade dann lohnt es sich, auch mal zu fragen: wieso reagiere ich so? An WAS erinnert mich diese Kunst? Was sagt mir meine Wut, meine Empörung, mein Ekel oder mein Nichtverstehen? Vielleicht auch: an WEN erinnert mich diese Kunst eigentlich?
Denn der Künstler oder die Künstlerin sind ja auch nur Sprachrohre, Spiegel. Überhaupt so etwas Persönliches nach außen zu zeigen im Ansinnen, ein Paradigma aufzeigen, eine These aufzumachen, eine Emotion anzukurbeln - allein das ist doch aller Ehre wert! Also, selbst wenn man sich unaufgeräumt fühlt, vor einem Werk, dann ist etwas passiert. Wenn es also so ist, dass die Kunst Sie und Euch unangenehm berührt, dann ist die Kunst der rechte Ort, „Die Ehre der Kritik“ zu üben. Richtig formuliert, freuen sich die allermeisten, die Kunst machen über Resonanz von denen, die ihre Kunst ansehen. Ich sage nicht, dass es einfach ist. Aber:
Dieses Duett: die Kunst und die Resonanz, der Kunstschaffende und der Kunstbetrachtende, das ist ein ganz eigener, wichtiger Safe Space. Den wir uns unbedingt bewahren müssen! Den wir, aus meiner Sicht, sogar noch ausbauen müssten, um zu üben, wie wir uns weiterbringen, welche Zwischentöne es gibt zwischen Verehrung und Verachtung. Aus meiner Sicht sehr viele.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Stand: 6. April, (c) Anja Mutschler.
P.S. Zur Geschichte des Kunstsalons und dem Experiment von Mutschler &/ Friends finden Sie einen Text in der Ausgabe von Kulturmanagement Nr. 178: „A Blast From the Past!“ von Anja Mutschler und Claudia Langosch, Seite 102ff (Link zur Ausgabe, kostenfrei downloadbar)
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