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»Jesus ist Jesus, oder nicht? Egal, woraus er gemacht ist«?

»Jesus ist Jesus, oder nicht? Egal, woraus er gemacht ist«?

Vortrag | Galeriefrühstück Künstlerbund Heilbronn | 17. Februar 2024 zur Ausstellung 

»L. A. B. O. R.« – Sinnfragen an die Kunst in Kooperation mit dem Theater Heilbronn 

Referent: Clemens Miersch 

Dramaturg der Inszenierung »NippleJesus« von Nick Hornby am Theater Heilbronn

 

Meine sehr geehrten Damen und Herren, zu allererst möchte ich sagen, wie sehr ich mich freue, dass Sie hier so zahlreich erschienen sind. Und dass Sie – wie es scheint – interessiert sind, an einem kleinen aber wirklich feinen Text der Unterhaltungsliteratur, der uns hier zusammengebracht hat: nämlich Nick Hornbys »NippleJesus«. 

Ich möchte zu Beginn gleich einen Dank vorausschicken – einen Dank, insbesondere an Kirsten Brunner und Klaus Rensch für die gemeinsame Kooperation und auch für die Einladung hier zum Galeriefrühstück. Aber auch an alle Künstlerinnen und Künstler vom Künstlerbund, die diese Kooperation so ausgesprochen vielseitig mitgestaltet haben.

 Um es gleich vorweg zu sagen: Mich hat diese Kooperation noch einmal in einer ganz neuen Art und Weise über diesen Text nachdenken lassen. Sie werden gleich merken – und das ist eine große Stärke von Hornbys Text –, dass er weit mehr ist, als bloße Unterhaltungsliteratur. Auch wenn das seinen Spaß in keinster Weise schmälert. Mit ein bisschen Mut zur produktiven Überinterpretation kann man sogar sagen: Nick Hornbys skurriler und tragisch-komischer Protagonist Dave wirft in »NippleJesus« die »ganz großen Fragen« auf – Fragen nach der Kunst und der Kunstrezeption, Fragen der öffentlichen Kunstwahrnehmung und der medialen Skandalisierung, Fragen rund um den Kunstmarkt und dessen Vermarktungsstrategien, aber eben auch die großen Fragen der Theologie und des religiösen Glaubens, denen ich mich heute ein bisschen widmen möchte. 

Die Fragen aus dem Ankündigungstext zu dieser Ausstellung hier: »Was ist Kunst?« oder »Was ist der Sinn von Kunst?« kann ich dabei sicher nicht beantworten. Ich habe dagegen versucht, den Fokus wenigstens ein bisschen enger zu stecken – obwohl die Fragen zugegebenermaßen in diesem engeren Fokus nicht unbedingt einfacher werden. 

Doch lassen Sie mich zunächst mit etwas Einfachem anfangen: Ich weiß nicht genau, wer von Ihnen den Text von Hornby kennt oder wer unsere Inszenierung am Theater Heilbronn gesehen hat. Deswegen möchte ich Ihnen kurz noch einmal erzählen, worum es in »NippleJesus« eigentlich geht. Leider werde ich Ihnen dabei aber auch das Ende verraten müssen, was sie mir hoffentlich nachsehen werden. 

Nick Hornbys Protagonist Dave ist eigentlich Türsteher im Nachtclub »Casablanca«. Doch selbst sein robustes Erscheinungsbild und seine nicht gerade zögerlichen Fäuste konnten nicht verhindern, dass er von Gästen, die er an der Clubtür abgewiesen hat, mit Stichwaffen bedroht wurde. Das lässt selbst den hartgesottenen Dave nicht kalt. Er beschließt, seine Türsteher-Karriere an den Nagel zu hängen – nicht zuletzt seiner Frau und ihrem gemeinsamen Kind zuliebe. 

Über eine Arbeitsvermittlung findet Dave aber zum Glück schnell einen neuen Job, sogar branchenverwandt: er wird Museumswärter. Zunächst ist er etwas verwundert darüber, warum ausgerechnet er für den Job ausgewählt wurde: Mit Kunst hat Dave jedenfalls nichts am Hut! Er weiß nicht einmal, ob er überhaupt schon mal in einem Museum war – die sehen doch alle gleich aus, wie er findet. Erst die Warnhinweise vor »seinem« Ausstellungsraum lassen Dave ahnen, dass er durchaus mit Kalkül für den Job ausgesucht wurde. Es handelt sich nämlich um ein kontroverses Kunstwerk, das das moralische und religiöse Empfinden verletzen könnte. 

Dave betritt den Raum und versteht zunächst nicht, was an diesem Bild mit dem Titel »NippleJesus« anstößig sein soll: Es sieht aus wie eine gewöhnliche Darstellung von Jesus Christus am Kreuz – bekannt aus nahezu jeder Kirche. Erst als Dave näher herantritt, erkennt er, dass das Porträt von Jesus aus einer Unzahl winziger, aus Pornoheftchen ausgeschnittener Bilder weiblicher Brustwarzen besteht. Und Dave ist mit seinen Türsteher-Qualitäten dafür vorgesehen, Störer und Randalierer von diesem Bild fernzuhalten, das bereits vor Ausstellungseröffnung massive Proteste erwarten lässt. 

Auch Dave findet das Bild zunächst abstoßend. Aber je mehr Zeit er berufsbedingt mit diesem Kunstwerk verbringt, desto spürbarer lässt sein Widerwille nach. Und es ist nicht zuletzt die für ihn überraschende Bekanntschaft mit der Künstlerin Martha, in die sich Dave ein bisschen »verguckt«, die ihn das Bild gegenüber seinen Verächtern verteidigen lässt. 

Er, der von allen am meisten Zeit mit diesem Kunstwerk verbringt, stellt nun – was seine Charakterisierung zunächst gar nicht vermuten lässt – erstaunlich kluge Gedanken an über das Kunstwerk, Kunst im Allgemeinen, und vor allem die Kunstkonsumenten, die dauernd in seinem Ausstellungsraum ein und aus gehen. 

Durch Daves derb-komische und philosophisch klügelnde Betrachtungen nimmt Nick Hornby hier zum einen so manchen Moralapostel auf die Schippe: Noch ohne das Bild gesehen zu haben und angestachelt durch die skandalisierende Berichterstattung, treten die Kunstkonsumenten mit Vorverurteilungen in Daves Ausstellungsraum. Nun fragt Hornby aber nicht nur nach den Empörungsmechanismen der Öffentlichkeit. Er fragt auch, wie rücksichtslos der moderne Kunstbetrieb diese Mechanismen einzusetzen versteht: 

Am Ende wird Dave nämlich selbst unfreiwillig Bestandteil des Kunstwerks: Während er seinen Posten verlässt, um einen Protestler, der ein Ei auf das Bild werfen wollte, aus dem Museum zu befördern, wird »NippleJesus« nämlich von der Wand gerissen und zerstört. Die Künstlerin Martha ist darüber jedoch nicht etwa entsetzt, im Gegenteil: Sie macht keinen Hehl daraus, dass sie es von Anfang an genau darauf abgesehen hatte. Ihr eigentliches Kunstwerk ist nämlich weniger das Bild »NippleJesus«, sondern das Video der Überwachungskamera, das dessen Zerstörung zeigt – und das nun unter dem Titel »Intoleranz« im Museum gezeigt werden soll. Der diensteifrige Dave bleibt am Ende betrogen und instrumentalisiert zurück. Instrumentalisiert, wie das Bild »NippleJesus« – in gewisser Weise sogar wie Jesus selbst in diesem Bild. 

Jetzt kann man die Geschichte so verstehen, als wollte Nick Hornby einfach nur die Moralapostel bloßstellen, die das Bild »NippleJesus« als einen gotteslästerlichen Angriff auf ihren Glauben von außen begreifen, der sie legitimiert dieses furchtbare Bild zu zerstören. Das stimmt sogar: »NippleJesus« ist definitiv ein satirischer Text über vorverurteilende Angriffe auf die Kunst im Namen dogmatischer Moralvorstellungen. 

Auf der anderen Seite stellt Nick Hornby aber nirgends infrage, dass es hier um eine echte Provokation geht. Dafür kriegt die Künstlerin Martha am Ende zu deutlich selbst ihr Fett weg. Ich denke aber, dass wir zu viel spannenderen Fragen kommen, wenn wir den Text – wie gesagt – ein bisschen überinterpretieren. Wenn wir die Sache nämlich nur so interpretieren, dass hier mit einem Bild ein Angriff von außen auf die Religion verübt wird, unterschlagen den extrem spannenden Aspekt, dass das Medium »Bild« in der Geschichte der Religion selbst dauernd ein »Stein des Anstoßes«, also ein Skandalon, war. Der Kampf um das Bild war nämlich zu allererst ein religionsinterner Streit – ein Streit um religiöse Selbstverständnisse, der die Religion einerseits weiterentwickelt, aber auch zu Glaubensspaltungen geführt hat. Man kann diesen religiösen Streit um das Bild kaum unterschätzen. Er hatte einen massiven prägenden Einfluss auf unser heutiges Verständnis von Kunst. Wir müssen uns also dem religiösen Bild und dessen Geschichte zuwenden. 

Und nicht weniger spannend wird es, wenn wir uns noch direkter dem »Stein des Anstoßes« zuwenden. Ich meine nicht dem Bild »NippleJesus« – das kriegen wir ja leider nicht zu sehen. Sondern ich meine dem Bild im Allgemeinen: dem Begriff des Bildes, der Logik, wie Bilder funktionieren. Wir müssen uns also fragen: Inwiefern haben Bilder überhaupt etwas »Skandalöses« an sich? Wie kann es sein, dass Bilder solche heftigen Reaktionen hervorrufen? Dass wir so starke Wertungen mit ihnen verbinden? Wie kann es sein, dass Bilder uns emotional und kognitiv so stark involvieren, dass sie uns regelrecht gefangen halten können, wie Ludwig Wittgenstein sagte? Wie kann es also sein, dass Bilder – vermeintlich oder tatsächlich – eine solche Macht ausüben? Eine solche Macht, dass sie in der Menschheitsgeschichte nie verschwunden sind – obwohl man sie oft beseitigen wollte. 

Zuerst kann man einmal festhalten, dass Bilden offensichtlich einen großen Anteil an der Entwicklung des Menschen haben. Es gibt offensichtlich einen »schier unüberwindlichen menschlichen Hang zur buntbildlichen Ausmalung«1. Man muss den Menschen also regelrecht als Homo pictor (Hans Jonas) verstehen, also als ein bildbefähigtes Wesen, das seine Vorstellungs- und Einbildungskraft permanent mit Bildern verknüpft. Man kann sogar sagen: Unsere abendländische Bewusstseinsgeschichte ist insgesamt auf das Sehen ausgerichtet, das heißt: Wir erwerben unser Wissen im Modus des Sehens. Von der Sichtbarkeit erhoffen wir, dass sie uns eine Form von Beweis liefert. Bilder sind dabei Mittel der Verständigung und Selbstverständigung. 

Doch die anthropologische Bestimmung reicht nicht aus, um die geheimnisvolle Wirkung und Macht der Bilder zu verstehen. Dafür müssen wir uns stärker der Frage zuwenden: Was ist denn ein Bild? Und wie funktioniert es?2 

Einmal nüchtern betrachtet: Ist das Bild nicht einfach ein Stück Leinwand mit Farbe beschmiert? Ist es nicht einfach nur ein stumpfes Ding? Die Farben, die jemand auf eine platte Grundfläche aufträgt, um beispielsweise ein Gesicht zu malen, sind eigentlich nur das – Farbpigmente, die blickdicht und unbewegt auf der Leinwand aufliegen.  

Aber wenn ich nun vor diesem Bild stehe, habe ich manchmal trotzdem den Eindruck, ich erblicke dort quasi ein leibhaftiges Gesicht. Das ist eine ganz wesentliche Grundbestimmung des Bildes, die im Grunde das Skandalöse aller Bildes ist – oder wenn Sie ein positiveres Wort dafür verwenden möchten: das Wunder aller Bilder. 

Das Bild gehört der Welt der Dinge an; es ist unauflösbar mit dem Materiellen verbunden. Und doch hat jemand auf einer Grundfläche Elemente so arrangiert, dass aus diesem undurchsichtigen materiellen Ding Sinn aufsteigt, etwas Sinnvolles sichtbar wird. Bilder sind also Dinge, die aber alles Faktisch-Dingliche übersteigen – ein »erstaunliches In-einander-über völlig gegensätzlicher Realitäten«3, wie Gottfried Boehm sagt. Obwohl sie Dinge sind, eröffnen sie uns manchmal den Zugang zu den tiefsten Einsichten und höchsten Geheimnisse. 

Wichtig für das Verständnis von Bildern ist also die Unterscheidung zwischen der Darstellung und dem jeweils Dargestellten: Wir sehen auf der einen Seite das Bild selbst, also das Ding, das an der Wand hängt. Auf der anderen Seite sehen wir aber in einem vielleicht noch viel schärferen Sinne das, was auf dem Bild zu sehen ist. Die Bilder wenden uns das zu, was auf ihnen zu sehen ist. Ich muss mich also gar nicht dort hineinversetzen, sondern das Bild hat mich als Betrachter strukturell immer schon mit eingenommen. Das Bild tritt mir also entgegen. Es tritt quasi in einen Dialog mit mir. Oder um es mit einem herrlichen Buchtitel von Georges Didi-Huberman zu sagen: »Was wir sehen, blickt uns an«.4 

Sie kennen ja sicher den gespenstischen Effekt von Porträts: In gewisser Weise blickt mich die Person im Bild tatsächlich an. Ich fühle mich von ihr beobachtet – ganz unabhängig davon, ob ich das möchte oder nicht. Denken Sie jetzt einmal an das Porträt einer bereits verstorbenen Person: Das Bild schafft es, dass mich diese Person auch lange nach ihrem Ableben so präsent anguckt.

Bilder besitzt also eine gewisse Magie der Vergegenwärtigung. Ihre geheimnisvolle Wirkung besteht darin, dass sie auf unser Leben ausgreifen. Und Menschen verlangen regelrecht danach, mit Bildern etwas lebendig anwesend werden zu lassen. Denn auch wenn wir gelernt haben, zwischen der Darstellung von etwas und diesem dargestellten Ding selbst zu unterscheiden, neigen wir immer dazu, das Bild mit dem gleichzusetzen, was darauf abgebildet ist. Das ist die große Verführungskraft der Bilder: Wir verstehen sie selbst nach dem »Muster von Lebewesen«5. Sie treten uns als fast schon eigenständige Akteure entgegen und schaffen eine Dimension, die über unser eigenes Handeln hinausgeht. Wir, die wir die Bilder gemacht haben, haben etwas geschaffen, was uns selbst übersteigt. 

Genau diese magische Verführungskraft hat das Bild aber schon immer verdächtig gemacht. Gerade in den Religionen hat diese Verführungskraft immer wieder für Verachtung und sogar Zerstörung von Bildern gesorgt, obwohl sich damit die Verehrung von Bildern nicht beseitigen ließ. Wenn wir uns jetzt den religiösen Bildern zuwenden, werden wir auch gleich merken, weshalb ausgerechnet auf diesem Gebiet so erbittert um Bilder gestritten wurde. Der menschliche Drang zur bildlichen Ausmalung, also der Versuch, im Bild etwas zu sichtbar, greifbar und damit auch begreifbar zu machen, kommt nämlich in Anbetracht der religiösen Inhalte in echte Schwierigkeiten.  

Im Grunde fängt alles mit der simplen Einsicht an: »Von Gott gibt es keine treffenden Bilder«. Wenn wir nach Gott fragen, sind wir direkt mit der Unsichtbarkeit Gottes konfrontiert. Das heißt also: »Alles Erkennen Gottes beginnt mit einem Scheitern«, wie das der Theologe Reinhard Hoeps formuliert.6 Und wenn Gott unsichtbar ist, dann lässt er sich auch prinzipiell nicht darstellen. 

Aus diesem Grund besagt auch das 2. Gebot im Alten Testament, dass es von Gott keine Bilder geben darf. Ganz einfach, weil jeder Versuch, Gott in einem Bild sichtbar zu machen, Gott verdinglichen würde. Das 2. Gebot mahnt uns also, nicht auf die Verführungskraft der Bilder »reinzufallen«. Selbst wenn wir versuchen würden, Gott zu malen, kann das Gemalte niemals Gott sein. Strenggenommen richtet sich das 2. Gebot also gar nicht gegen das Bild insgesamt, sondern gegen die sogenannten Kultbilder, also Darstellung von Gott, die wie Gott selbst verehrt werden. Das Bilderverbot soll dagegen die unfassbare Macht Gottes verbriefen, das heißt, seine Unverfügbarkeit und prinzipielle Andersartigkeit gegenüber der Menschenwelt. 

Könnten wir jetzt nicht einfach sagen: Wenn wir Gott nicht darstellen können, dann lassen wir es halt? 

Wie Sie aber wissen, ereignet sich mit dem Christentum eine ungeheure Neuerung, die ganz gravierende Auswirkungen auf das Bilderverbot im Alten Testament hatte. Diese ungeheure Neuerung ist der Kern des christlichen Glaubens: nämlich die Menschwerdung Gottes. Nach dieser Glaubensvorstellung hat sich Gott selbst in der fleischlichen Gestalt seines Sohnes Jesus Christus offenbart und sich den Menschen sichtbar gemacht. 

Von Jesus Christus heißt es bei Paulus (im Kolosserbrief 1,15), dass er als der sichtbare menschgewordene Sohn »das Ebenbild des unsichtbaren Gottes« ist. Während also die direkte Darstellung des unsichtbaren Gottes prinzipiell noch unmöglich und damit eben auch verboten war, so musste man jetzt feststellen: Wenn Jesus schon Bild ist, dann ist das Existenzrecht von Bildern ja wohl nicht grundsätzlich infrage gestellt. Genau diese grundsätzliche Möglichkeit, erweist sich jetzt aber als das große Problem. Jetzt stand man nämlich vor der vielleicht noch viel komplizierteren Frage, wie genau das denn möglich sein soll. 

Der Bildbegriff, den Paulus verwendet, war nämlich zu allererst ein strikt philosophischer Bildbegriff. Jesus als »das Ebenbild des unsichtbaren Gottes« – damit meinte Paulus, dass nur Jesus selbst in seiner menschgewordenen Gestalt das einzig legitime Bild Gottes war. Paulus verstand Jesus als ein »nicht von Menschenhand gemachtes Bild«, was man von einem gemalten Bild von Jesus kaum wird behaupten können. Paulus Bildbegriff lässt sich also nicht einfach auf Darstellungen von Jesus übertragen.7 

Generell gab es viele theologische Debatten, in denen versucht wurde, sich das Wunder der Menschwerdung zu erklären. Auf bildliche Darstellungen übertragen führten sie jedoch eher zu noch mehr Problemen. Ein kirchliches Dogma erwies sich dabei als zentral für das Darstellungsproblem, nämlich die Zwei-Naturen-Lehre, wonach in ein und derselben Person Christi, zwei verschiedene Naturen wohnen: Es ist nämlich wahrer Gott und wahrer Mensch zugleich (und das auf »unvermischte«, »unverwandelte«, »ungetrennte« und »unzerteilte« Weise).  

Jetzt ergibt sich für die Bildfrage folgendes Dilemma: Welchen Körper sollte man denn nun darstellen? Den, der die göttliche Natur ausdrückt? Aber wie sollte man von dieser göttlichen Natur ein Bild malen, ohne diese göttliche Natur zu verkürzen? Oder sollte man Jesus in seiner menschlichen Natur darstellen? Aber unterschlägt man dann nicht seine göttliche Natur, die ihn nun mal unter den Menschen herausstellt? Der Körper war also entweder als ein göttlicher nicht darstellbar oder als rein menschlicher nicht darstellungswürdig. 

In der Frühphase des Christentums versuchte man, dieses Problem auf besondere Art und Weise zu umgehen. Da der Körper Christi im Sinne von Paulus das einzig legitime Bild war, in dem sich Gott den Menschen sichtbar zeigte, versuchte man nun bildliche Darstellungen dadurch zu legitimieren, dass sie in direkter Berührung mit dem Original standen – nämlich Jesus selbst. 

Denken Sie etwa an das berühmte Grabtuch von Turin, in dem Christus vermeintlich begraben wurde und das seine körperlichen Umrisse zeigt. Man behauptete, dass auch diese Bilder »nicht von Menschenhand gemacht« (acheiropoieton) und damit »echte« Bilder waren. Diese »Abdruck«- Bilder wurden also durch ihre Berührung mit dem Körper Christi zu Reliquien, die einen himmlischen und nicht-menschlichen Ursprung für sich reklamierten. 

Problematisch war jedoch, dass sich um diese Bilder schnell Wundergeschichten rankten: Sie wurden quasi wie Jesus selbst verehrt und rückten damit in gefährliche Nähe zu den heidnischen Götzenbildern. An diesen Kultbildern entbrannte dann auch eine große Welle der Bildzerstörung. 

Und problematisch war zum anderen, dass diese »Abdrücke« strenggenommen gar keine Bilder sind. Sie sind vielmehr rein mechanische Ab-bilder, aber keine künstlerischen Darstellungen. Die sogenannten »nicht von Menschenhand gemachten Bilder« waren also ein Widerspruch in sich. Sie konnten das Problem, wie man die zwei Naturen Jesu darstellen kann, jedenfalls nicht lösen. 

Die Doppelnatur Christi war nicht direkt abbildbar. Bilder konnten keinen sichtbaren Beweis davon liefern. Für die Künstler ist nur eine Natur darstellbar, nämlich die menschliche Natur in Form des sichtbaren Körpers Christi, die unsichtbar die göttliche Natur mit ausdrückte. Das heißt: Die göttliche Natur musste projiziert werden. Sie bewährte sich am Ende aber nur im Glauben. 

Über diese Einsicht wandelte sich allmählich das Verständnis von Bild und Beweis. Wie Hans Belting ausführt, wurde die Beweiskraft eines Bildes »zugleich begrenzt und ausgeweitet: »begrenzt, weil ein Bild nur den sichtbaren Körper darstellen konnte, und ausgeweitet, weil es daneben auch einen unsichtbaren Referenten besaß. Was es sichtbar machte, widersprach nicht jenem, was es unsichtbar ließ.«8 

Wir müssen sogar noch einen Schritt weitergehen: In der christlichen Malerei drückte sich nun immer deutlicher ein ganz neuartiges Verständnis von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit aus. 

Die Unsichtbarkeit Gottes – also auch die Unsichtbarkeit der göttlichen Natur in Christus – bringt paradoxerweise ganz eigene Formen von Sichtbarkeit hervor. 

Das Verlangen nach Sichtbarkeit wird zwar enttäuscht, aber eben nicht durch absolute Unsichtbarkeit, sondern viel mehr durch eine neue Art und Weise von Sichtbarkeit, die das Verlangen verstört. Die Unsichtbarkeit Gottes relativiert nicht das Sichtbare, sondern sie macht aus dem Sichtbaren ein Problem. Und in der christlichen Kunst kommt dieses Problem ganz deutlich zum Vorschein – sie stellt dieses Problem selbst aus.9 

Ausgehend vom paradoxen Geheimnis der Menschwerdung Gottes hat das Christentum also eine ganz neue Weise der Kunst, also ein ganz eigenes System von Darstellungsmöglichkeiten entwickelt. Der Kerngedanke dieser neuen Kunst ist, dass die Menschwerdung den »normalen« Lauf der Dinge, das heißt die gewohnte sichtbare Weltordnung durcheinandergebracht hat. Das Mysterium, wonach das Unsichtbare in die Sichtbarkeit getreten ist, hat den Gegensatz von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit aufgehoben.10 

Georges Didi-Huberman behauptet: Gerade, weil man dieses Mysterium nicht begreifen kann, kann man es eigentlich nur darstellen. Nur meint der Begriff »Darstellung« hier etwas ganz anderes. Er meint nicht mehr, dass man dieses Mysterium direkt – »realistisch« – abbilden kann. Das hatten die Künstler verstanden. Darstellbar ist dieses Mysterium nur indirekt – und zwar über den Weg der Entstellung.11 

Die Bildende Kunst kann sich nur auf das Sichtbare stützen. Aber sie mussten nun das Sichtbare in einer solchen Art und Weise entstellen, dass die Bilder, wenn sie schon nicht direkt das Mysterium darstellen können, wenigstens zeigen können, dass dieses Mysterium die gewöhnliche Ordnung des Sichtbaren aus den Angeln hebt. 

Christliche Kunst erfordert also geradezu, paradoxe, »mysteriöse« Bilder zu produzieren: nur so kann sie selbst den Charakter des aufwühlenden Ereignisses der Menschwerdung in irgendeiner Weise repräsentieren. 

Das Unsichtbare ist für die Christliche Kunst also nur über Umwege, nur über einen indirekten Bezug zu haben. 

Christliche Kunst, die den unsichtbaren Gott direkt sichtbar machen möchte, scheitert an ihrem Ziel. Aber dieses Scheitern kann uns etwas über Gott erzählen. Wenn die Christliche Kunst ihr eigenes Ringen ausstellt, den unsichtbaren Gott sichtbar zu machen, erzählt sie uns nämlich: Wir können Gott nicht wissen. 

Nun muss man noch ein Paradox mitdenken: Genau dadurch, dass Gott selbst im Bild nicht sichtbar ist, ist er im Bild dennoch anwesend. Seine ganze Wirkung entfaltet sich daher, dass er im Bild nicht sichtbar ist. Als nicht sichtbarer sucht Gott das Bild immer wieder heim. Gerade seine Abwesenheit verbürgt seine Anwesenheit. 

Das »von Angesicht zu Angesicht« mit Gott aber, wie es bei Paulus (1. Korinther 13,12) heißt, bleibt reserviert für das Ende der Zeiten – aber nicht für unsere menschliche Welt. Hier malen wir nur die Bilder, die nach diesem »von Angesicht zu Angesicht« verlangen. In unserer menschlichen Welt könnten wir das Unsichtbare nicht anders erfassen als durch Bilder – auch wenn sie problematisch sind. Aber für uns bestätigt sich das Unsichtbare eben nur durch das Sichtbare. 

Diese Spannung zwischen der Transzendenz, also dem unsichtbaren Wesen Gottes, und der   visuellen Wahrnehmung ist eine grundlegende Dimension christlichen Glaubens selbst. Bilder vergegenwärtigen zwar und machen sichtbar; gleichzeitig bewahren sie jedoch die Unerreichbarkeit des Vergegenwärtigten. »Das gelungene Bild Gottes manifestiert in eben dem Maße Gottes visuelle Gegenwart, wie es seine unerreichbare Transzendenz bezeugt« – so formuliert das Reinhard Hoeps.12 

Eine der schönsten und tiefgründigsten Stellen in »NippleJesus« möchte ich Ihnen noch vorlesen. Kurz nachdem das Bild »NippleJesus« von einigen Protestlern zerstört wurde, sagt Dave: »erst als ich das Bild so kurz und klein geschlagen auf dem Boden liegen sah, begriff ich, wie sehr ich es geliebt hatte. Aber ich will euch noch was sagen, was ganz Verrücktes: Diesen Christus da am Boden liegen zu sehen, das Gesicht kaputt … das war ein richtiger Schock. Was die getan hatten, war blasphemischer als alles, was Martha getan hatte. Ich fragte mich, ob sie das bedacht hatten, als sie es taten. Ob sie einen Moment lang Zweifel hatten, oder Angst. Denn eins kann ich euch sagen: Wenn ich religiös wäre und daran glauben würde, dass es eine Hölle gibt, wo einem Schlangen die Augäpfel aussaugen und so, dann würde ich nicht hingehen und Jesus auf dem Gesicht rumtrampeln. Jesus ist Jesus, oder nicht? Egal, woraus er gemacht ist. Und vielleicht gehörte das auch zu den Dingen, die Martha ausdrücken wollte: Christus ist dort, wo man ihn findet.« 

Es gehört zur unschlagbaren Komik dieses Textes, dass ausgerechnet Dave das sagt. Ausgerechnet der, der weder mit Kunst noch mit Religion etwas am Hut hat, begreift hier die unglaubliche Kraft der Bilder, etwas zu vergegenwärtigen – dass dieses Bild also nicht nur ein Bild ist, sondern dass in diesem Bild etwas mehr anwesend ist. Dave begreift: auf irgendeine seltsame Weise vergegenwärtigt diese Darstellung Christi tatsächlich den dargestellten Christus. 

Und ausgerechnet denen, die durch ihren Glauben am ehesten diese Mehrdimension begreifen könnten, entgeht sie. Sie zerstören das Bild als wäre es eben nichts anderes als nur ein Bild – als wäre die Darstellung Christi in keinster Weise mit Christus selbst verbunden. Ironischerweise widerlegen sie sich eigentlich selbst: Ihr heftige Reaktion auf dieses Bild, ihr Glaube, es zerstören zu müssen, bestätigt, dass es doch mehr ist als nur ein Ding an der Wand. 

»NippleJesus« ist ein wunderbares Beispiel für einen iconoclash, wie der Philosoph und Soziologe Bruno Latour das nennt13: Wir zögern. Wir sind verstört und wir wissen nicht genau, ist das Bild da nur ein Bild oder ist es doch mehr. Ist das Bild nicht genau das – ein Hin und Her zwischen diesen beiden Polen? 

Zwischen der Darstellung und dem Dargestellten klafft im Bild immer ein Riss.14 Dieser Zwiespalt lässt sich nicht schließen. Aber dieser Zwiespalt ist überhaupt erst die Voraussetzung dafür, dass es Sinn gibt. Er erlaubt uns zu erkennen: dass da ist ein Bild, und als Bild ist es nicht identisch mit dem, was es darstellt. Aber es erlaubt uns genauso zu erkennen: die Darstellung ist niemals unberührt vom Dargestellten. Dieser im Bild selbst angelegte Streit ist ein dauernder Impulsgeber15, dem wir uns nicht verschließen sollten – trotz des eminenten Risikos, den er aufscheinen lässt. Wollte man sich diesem Risiko verschließen, bliebe alternativ nur eine Option –  die finale, absolute Bildlosigkeit.16 Doch wie Bruno Latour zu Recht fragt: Ohne die vermittelnde Funktion des Bildes – zu welcher Wahrheit hätte man da überhaupt einen Zugang?17 

Ich bedanke mich herzlich für Ihre Aufmerksamkeit. 

 

1 Reinhard Hoeps: Gott sehen? Erste Fragen der Bildtheologie. Online unter: https://bildtheologie.de/gott-sehen/ (28.02.2024).  

2 Vgl. zu dieser Frage besonders die instruktiven Arbeiten von Gottfried Boehm, etwa: Gottfried Boehm: Die Passion der Bilder. Herausgegeben von Carolin Meister. Köln: Verlag der Buchhandlung Walther und Franz König 2021. Gottfried Boehm: Die Wiederkehr der Bilder. In: ders. (Hrsg.): Was ist ein Bild? Paderborn: Wilhelm Fink Verlag 1994. Gottfried Boehm: Die Bilderfrage. In: ders. (Hrsg.): Was ist ein Bild? Paderborn: Wilhelm Fink Verlag 1994. Gottfried Boehm: Repräsentation - Präsentation - Präsenz. Auf den Spuren des homo pictor. In: ders. (Hrsg.): Homo Pictor. München, Leipzig: K. G. Saur 2001. Gottfried Boehm: Ikonische Differenz. Glossar. Grundbegriffe des Bildes. In: Rheinsprung 11 Zeitschrift für Bildkritik (2011). Online: https://rheinsprung11.unibas.ch/archiv/ausgabe- 01/glossar/ikonische-differenz.html (28.02.2024).  

3 Gottfried Boehm: Die Passion der Bilder. Herausgegeben von Carolin Meister. Köln: Verlag der Buchhandlung Walther und Franz König 2021.  

4 Georges Didi-Huberman: Was wir sehen, blickt uns an. Zur Metapsychologie des Bildes. München: Wilhelm Fink Verlag 1999.  

5 Gottfried Boehm: Repräsentation - Präsentation - Präsenz. Auf den Spuren des homo pictor. In: ders. (Hrsg.): Homo Pictor. München, Leipzig: K. G. Saur 2001.  

6 Reinhard Hoeps: Gott sehen? Erste Fragen der Bildtheologie. Online unter: https://bildtheologie.de/gott-sehen/ (28.02.2024).  

7 Vgl. hierzu sowie zu den folgenden Ausführungen Hans Belting: Das echte Bild. Bildfragen als Glaubensfragen. München: Verlag C.H. Beck 2005. Detaillierte Analysen finden sich auch in der monumentalen Studie von Hans Belting: Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst. München: Verlag C.H. Beck 1990.  

8 Hans Belting: Das echte Bild. Bildfragen als Glaubensfragen. München: Verlag C.H. Beck 2005. 

9 Reinhard Hoeps: Gott sehen? Erste Fragen der Bildtheologie. Online unter: https://bildtheologie.de/gott-sehen/ (28.02.2024).  

10 Vgl. dazu die erhellenden Arbeiten von Georges Didi-Huberman: Von den Mächten der Figur. Exegese und Visualität in der christlichen Kunst. In: Emmanuel Alloa (Hrsg.): Bildtheorien aus Frankreich. Eine Anthologie. Paderborn: Wilhelm Fink Verlag 2011. Sowie: Georges Didi-Huberman: Vor einem Bild. München, Wien: Carl Hanser Verlag 2000.  

11 Vgl. Georges Didi-Huberman: Von den Mächten der Figur. Exegese und Visualität in der christlichen Kunst. In: Emmanuel Alloa (Hrsg.): Bildtheorien aus Frankreich. Eine Anthologie. Paderborn: Wilhelm Fink Verlag 2011.  

12 Reinhard Hoeps: Gott sehen? Erste Fragen der Bildtheologie. Online unter: https://bildtheologie.de/gott-sehen/ (28.02.2024).  

13 Vgl. Bruno Latour: Iconoclash oder Gibt es eine Welt jenseits des Bilderkrieges? Berlin: Merve Verlag 2002.  

14 Hierzu sei nur ein kleines Zitat von Marie-José Mondzain an den Rand gestellt: »Um zu verstehen, worin die Macht des Bildes liegt, muss man nicht nur sagen, dass es immer Bild von etwas ist, sondern auch, dass das, wovon es Bild ist, ihm substanziell fremd ist« (Marie-José Mondzain: Können Bilder töten? Zürich, Berlin: Diaphanes 2006).  

15 Vgl. wiederum Gottfried Boehm: Die Passion der Bilder. Herausgegeben von Carolin Meister. Köln: Verlag der Buchhandlung Walther und Franz König 2021. 

 

 

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